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Verantwortung übernehmen

Verantwortung übernehmenPÄDAGOGIK 5/04; Seite 24-26

Ist es gerechtfertigt, junge Menschen zu sozialen Diensten zu verpflichten? Welche Erwartungen darf Schule haben, wenn Verantwortungsübernahme in sozialer Arbeit auf dem Lehrplan steht? Wie sind Gesprächssituationen zu gestalten, wenn Lehrer(innen) und Schüler(innen) über verantwortliches Handeln nachdenken? Fragen, die geklärt werden müssen, wenn Schüler(innen) auf ein soziales Praktikum verpflichtet werden.

Schule als Verantwortungsgemeinschaft

In regelmäßigen Abständen, aus unterschiedlichen Anlässen rufen politisch Verantwortliche nach dem sozialen Pflichtjahr. Ebenso regelmäßig wird dieses Anliegen mit immer denselben Argumenten befürwortet oder abgelehnt. Darf man junge Menschen zu einem sozialen Dienst zwingen? In Compassion-Schulen haben sich Eltern, Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Schulträger an einen Tisch gesetzt und die Frage eines sozialen Praktikums diskutiert. Dass Schülerinnen und Schüler 14 Tage ein soziales Praktikum leisten, wird gemeinsam entschieden und getragen. Die Jugendlichen wählen aus einem vielfältigen Angebot der Schule ihren Einsatzort oder sie finden über Eltern und Freunde das für sie passende Praktikum. Sie entscheiden selbst. Vertreter sozialer Einrichtungen kommen in die Schulen, Lehrerinnen und Lehrer besuchen ihre Schülerinnen und Schüler während des Praktikums in Kindertagesstätten, Altenheimen, Krankenhäusern, betreuten Werkstätten u. a. Vor und nachbereitender Unterricht in den verschiedenen Fächern und über die Fachgrenzen hinaus ist keine garnierende Zutat des Projekts, sondern die zweite Säule der im Compassion-Projekt gelebten Verantwortung.

Compassion als Schulprofil

Dieses Schulprofil unter dem Stichwort Compassion hat eine Geschichte. 1994 wird erstmals ein Konzept vorgestellt, das sich das Ziel gestellt hat, sozialverpflichtete Haltungen und Einstellungen bei Jugendlichen zu entwickeln und zu stärken.


Dass Schülerinnen und Schuler 14 Tage ein soziales Praktikum leisten, wird gemeinsam entschieden und getragen.

Die Schülerinnen und Schüler der 11. Klassen des Gymnasiums bzw. der Klassen 9 bei Haupt, Real und Förderschulen verlassen in der Regel für zwei Wochen die Schulräume und übernehmen Verantwortung in Altenheimen, Sozialstationen, Einrichtungen für Obdachlose, Flüchtlinge usw. Der Dienstplan der sozialen Einrichtung tritt an die Stelle des Stundenplans. Die Lehrerinnen und Lehrer besuchen ihre Schülerinnen und Schüler am Praktikumsort, halten Kontakt und erarbeiten im Unterricht Fragestellungen, die mit den Praktika verknüpft werden können. Dabei besteht Compassion-Unterricht gerade nicht nur in der Besprechung der Erlebnisse. Compassion-Unterricht heißt vielmehr die Aufnahme relevanter Themen und Unterrichtsformen in den Ablauf des Unterrichts der jeweiligen Fächer.

Beispiele
So gestalten die Praktikantinnen und Praktikanten einer Klasse im Kunstunterricht ein Transparent für die Eröffnung eines Seniorenhauses oder versuchen einen Eindruck vom Leben mit Behinderungen zu bekommen, indem sie sich etwa die Augen verbinden und Farben unter der Anleitung von Mitschülern mischen. In Deutsch verarbeiten sie ihre Empfindungen und Gedanken in Gedichten. Die Lehrkräfte in den philologischen Fächern suchen geeignete Texte aus, um so Anlässe zur Verbalisierung von Erfahrungen und weiterführenden Reflexionen in der Zielsprache zu nutzen. Biologielehrer können etwa Informationen über Krankheiten mit einer unmittelbaren Bedeutsamkeit vermitteln. Die Lehrenden in Physik und Chemie stellen Fragen über Sinn und Nutzen von Technik und medizinischem Fortschritt im Zusammenhang des Projekts. Im Religions- und Ethikunterricht stellt sich die Frage nach dem wünschbaren Formen menschlichen Zusammenlebens und nach deren Begründung aufgrund eines homogenen Erwartungs- oder Erfahrungshintergrunds. Für viele Schulen ist dies aber erst der Anfang. Sie stellen für sich die Frage nach einer durchgehenden Orientierung ihres Schullebens. Compassion darf kein isoliertes Geschehen für eine bestimmte Klassenstufe sein. Verantwortung kann nicht einfach gelernt, sondern sie muss gelebt werden.


Ziel ist, sozialverpflichtete Haltungen und Einstellungen bei Jugendlichen zu entwickeln und zu stärken.


Soziale Einstellungen, prosoziale Dispositionen, soziales Engagement scheinen heute wichtiger als in früheren Zeiten. Und dies nicht ohne Grund, denn die Bedingungen menschlichen Handelns haben sich vor allem während des 20. Jahrhunderts so verändert, dass "ein Gegenstand von gänzlich neuer Ordnung, nicht weniger als die gesamte Biosphäre unseres Planeten, dem hinzugefügt worden ist, wofür wir verantwortlich sein müssen" (Jonas 1984). Der Rückblick zeigt, dass Hans Jonas in seiner Einschätzung der durchgreifenden Veränderungen im Gefolge der technischen Entwicklungen der vergangenen hundert Jahre ein Desiderat formuliert, dessen Einlösung offenbar dem 21. Jahrhundert vorbehalten bleibt.

Sorge um ein anderes Sein
Hans Jonas begnügt sich aber nicht allein mit der bloßen Beschreibung eines Problems. In philosophischer Blickrichtung bestimmt er die "Sorge um ein anderes Sein", also Empathie und aktive Fürsorge, als den Schlüssel zur Erhaltung unseres ganzen Planeten. Das "Prinzip Verantwortung" ist damit zugleich individuelle Disposition und gelebte Lösung einer globalen Problemlage. Es ist zu fragen, ob die Motivierung für die Übernahme von Verantwortung nicht die Möglichkeiten von Schule überfordert und ob sich für Lehrer und Erzieher eine homogene Werte Vermittlung unter dem Hinweis auf die Verantwortung des Pädagogen auch pädagogisch rechtfertigen lässt. Ob es also legitim ist, bei Schülerinnen und Schülern prosoziale Dispositionen sozusagen als Auftragsarbeit herzustellen. Wenn aus den Kindern und Jugendlichen damit ein außengesteuertes Produkt würde, dann würde sich das gegen die Würde des Menschen richten.


Verantwortung nehmen statt Verantwortung haben
Dass der Begriff der Verantwortung ein dynamisches Element beinhaltet, entspricht seinem Ursprung im Rechtsbereich. Dort wurde "Verantwortung" als Rede und Gegenrede, der Verteidigung und Rechtfertigung vor Gericht bezeichnet. Aber Verantwortung ist nicht mit dem Tun des sachlich oder juristisch Gebotenen gleichzusetzen. Verantwortung bedeutet sich sowohl antizipierend den eigenen Handlungsmöglichkeiten zu stellen als auch das eigene Handeln aufgrund von Folgen zu reflektieren, sich selbst und anderen Antworten zu geben.


Es ist zu fragen, ob es legitim ist, bei Schülerinnen und Schülern prosoziale Dispositionen als Auftragsarbeit herzustellen.


Konstitutiv für die Verantwortung des Menschen ist die ihm wesenhaft zuzusprechende Freiheit. Freiheit ist aber in diesem ethischen Zusammenhang nicht als das Fehlen von Bindungen zu verstehen, sondern als die menschliche Fähigkeit sich zu entscheiden. Fragen der moralischen, der ethischen Lebensführung sind zu verantworten, jedoch nicht endgültig zu beantworten. Gefundene Antworten unterliegen nicht nur dem Bewährungsvorbehalt, sondern auch dem Vorbehalt des besseren Arguments. Solche Verantwortung bedeutet nicht statisch Zuständigkeit für die Erfüllung bestimmter Aufgaben, sondern die dynamische Frage nach dem Guten, nach dem ethisch Richtigen als Frage des eigenen Handelns zu stellen und für sich zu beantworten. Dieses dynamische Verständnis von Verantwortung hat pädagogische Konsequenzen. Der Weg der Konditionierung bleibt damit verwehrt. Schülerinnen und Schüler würden sonst zu unmündigen und damit verantwortungslosen Opfern von Entscheidungen Dritter. Auch deshalb bleibt das Compassion-Praktikum mit zwei Wochen relativ kurz. Die Praktikanten sollen einen Einblick in die Lebenswirklichkeit sozialer Einrichtungen gewinnen. Sie sollen nicht durch das Erleben gefangen werden. Wenn Schule konditioniert und das funktioniert möglicherweise sogar , dann besteht die Gefahr, dass die Kinder und Jugendlichen nicht nur soziales Verhalten, sondern grundlegend die unreflektierte und heteronome Übernahme von Werten lernen. Wenn Schule sich im Compassion-Projekt der dynamischen Verantwortung verschreibt, dann wird sie Schülerinnen und Schülern helfen wollen, selbst Wertentscheidungen zu treffen, um eigenverantwortlich ihr Leben zu gestalten, d.h. in Freiheit Verantwortung zu leben und damit der allgemeinen Aufgabe der sozialen Lebensgestaltung nachzukommen.

Schülerinnen und Schüler über Compassion
"Ich hätte vorher nie gedacht, dass es so viele einsame Menschen gibt, die vollkommen von der Sozialstation abhängig sind. Alle Menschen brauchen gleich viel Zuwendung. Ich habe Vorurteile gegenüber Kranken und Behinderten abgebaut. Ich beurteile Menschen nicht mehr nach ihrem Alter, Krankheit oder Behinderung. Es sind alle gleich und brauchen Zuwendung." (Schülerin in einer Sozialstation)


"Jetzt achte ich mehr auf die politischen Situationen in der Welt." (Schüler in einer Flüchtlingsberatungsstelle)


"Für mich war es neu, dass es so viele rechtliche Hürden gibt, um in Deutschland in Ruhe zu leben, da ja der eigene Heimatstaat zerstört ist oder Ungerechtigkeit herrscht... Während des Praktikums habe ich gelernt, dass Menschen in Not Verständnis und v. a. Hilfe brauchen, zumal sie in einem fremden Land sind. Jetzt achte ich mehr auf die politischen Situationen in der Welt, um Nachrichten (Fernsehen) mehr mitzuerleben, zu verstehen." (Schüler in einer Flüchtlingsberatungsstelle)

Keine Instruktionsanstalten
Compassion-Schulen wollen nicht Instruktionsanstalten sein, aber dennoch ihre ureigene Aufgabe wahrnehmen, nämlich die Inhalte lehren, die die Eltern nicht lehren können. Sie wollen sich die bildende Vermittlung von Wissen und Werten zum Ziel setzen. Denn auch das Wissen um soziale Sachverhalte allein bedeutet noch nichts. So führt die Nachricht über eine Flutkatastrophe nicht unweigerlich dazu, dass für die davon betroffenen Menschen Geld gespendet wird. Oder die Information, dass gerade in Deutschland besonders Kinder von Armut betroffen sind, senkt nicht die Mieten für größere Wohnungen. Für die Schule bedeutet dies: Die Präsentation von Fakten allein vermag ein bestimmtes Handeln nicht zu motivieren. Aber dennoch stellt das Wissen um solche Bedingungen eine unerlässliche Voraussetzung für menschliches Entscheiden und Handeln dar. Deshalb verbindet Compassion soziales Praktikum und Unterricht. Nicht um bestimmte Werte zu motivieren, sondern um die gemeinsame Verantwortung von Lehrenden und Lernenden zu befördern.


Schülerinnen und Schülern helfen, selbst Wertentscheidungen zu treffen


Dieser Prozess ist aber auf den Austausch mit anderen und deren Argumente angewiesen. Solches Lernen, das um Handlungsorientierung ringt, versteht Lehrende und Lernende als Lehr- und Lerngemeinschaft oder allgemeiner: als Verantwortungsgemeinschaft. Compassion-Schulen stellen sich der Situation, dass im Verantwortungsdialog kein Unterschied zwischen den Dialogpartnern gemacht werden kann, dass sie vielmehr aufeinander verwiesen sind. Wenn der Lehrer den Gedanken des sozialen Lernens in dieser Weise ernst nimmt, dann kann er sich keiner ernsthaft vorgetragenen Frage verschließen. Und dann kann er dies auch von Schülerinnen und Schülern erwarten. Gerade deshalb wird für das Praktikum unbedingt erwartet, dass die Unterrichtenden sich auch einen Eindruck von den Erfahrungen der Jugendlichen machen.

Neue Gesprächssituation
Vor allem nach dem Praktikum ergeben sich neue Gesprächssituationen. Die klare Rollenzuordnung zwischen Vermittelnden und Aufnehmenden löst sich oftmals auf. Wenn die Schüler es in vielem tatsächlich "besser wissen", dann kann Verantwortung auf dem Weg des Dialogs lebendig werden. Das ist etwa beim Thema Pflegeversicherung im Gemeinschaftskundeunterricht für die Lehrenden nicht unbedingt angenehm, verlassen sie doch im Feld der so verstandenen Werteerziehung den hohen Stuhl der Wissenden und finden sich auf einer Ebene mit den Schülerinnen und Schülern wieder. Im Compassion-Unterricht wird also nicht gelernt, dass man diese oder jene Verantwortung einfach hat, sondern es wird gemeinsam versucht Verantwortung zu begründen. Compassion-Schulen wollen die Frage sozialer Verantwortung nicht einfach an eine Instanz außerhalb delegieren. Die Erfahrungen des Praktikums sollen nicht automatisch die Bereitschaft der Übernahme von Verantwortung generieren. Sondern die Erlebnisse mit alten, behinderten, kranken und anderen hilfsbedürftigen Menschen sind Anlass um die Reflexion auf die eigene Verantwortung anzuregen und weiterzuführen. Compassion-Schulen wollen mit ihrem Modell der persönlichen Verantwortung gerecht werden. Mit Praxis und Unterricht wollen sie Schülerinnen und Schüler stark machen. Compassion versteht sich als ein notwendiges, weil die Not der verantwortlichen Lebensführung und Lebensgestaltung wendendes Projekt.

Literatur Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 1984, S.27

Dr. Stefan Gönnheimer, Jg. 1962, ist Lehrer am St. Ursula-Gymnasium Freiburg. Adresse: Weilerweg 28. 79199 Kirchzarten